„Von den Sternen stürzt alle Zeit herab“

In Berlin-Steglitz entsteht eine neue Aufnahme der „Elektra“ von Richard Strauss

Barbara Krieger und Astrid Weber

Nahe der bereits vorweihnachtlich dekorierten Steglitzer Schloßstraße, in einer  Seitenstraße, in einem Hinterhof ein paar Treppenstufen hinauf, befindet sich ein kleines, privates Tonstudio. Dort hat sich ein hoch motiviertes Team zusammen gefunden um Richard Strauss‘ wohl anspruchsvollste Oper für die Schallplatte aufzunehmen. Die Vorgeschichte des Projektes allein lässt schon an einen immer noch wirksamen Fluch des Atriden-Geschlechtes denken. Man muss diese Vorgeschichte kennen, um die besonderen Umstände dieser Aufnahme-Sitzungen zu verstehen.

Bereits vor längerer Zeit hatten der Dirigent Julien Salemkour und die Sopranistin Barbara Krieger den Plan gefasst, „Elektra“ einzuspielen. Angedacht war ursprünglich, das Simon-Bolivar-Youth-Orchestra, das bereits mit Salemkour gearbeitet hatte, für die Einspielung zu verpflichten. Sänger und Dirigent wären für die Aufnahmen dann nach Caracas geflogen. Zu diesem Zeitpunkt der Planung schlug der Fluch der Atriden erstmals zu, die Corona-Pandemie machte eine Reise nach Venezuela unmöglich.

Viel Arbeit und Kosten waren bereits in das Projekt investiert, als der Dirigent Salemkour , der gerade für einige Dirigate an das Bolshoi-Theater in Moskau verpflichtet worden war, anregte, die Elektra-Aufnahmen dort mit dem Orchester des Bolshoi-Theaters durchzuführen.  Salemkour bot an, als Alternative eine komplette Aufnahme des Orchesterparts zu liefern. Also geschah es auch, und nun arbeitet das Sänger-Ensemble in Berlin mit dem Band des Moskauer Orchesters. Man kann diese ungewöhnliche Kombination durchaus als ein kulturpolitisches Gegengewicht zur Realpolitik verstehen. Die ungewöhnlichen Voraussetzungen für die Zuspielung der Sängerstimmen sind eine Herausforderung, die aber auch ihre Vorteile hat.

Würden mehrfache Wiederholungen eines Takes mit anwesendem Orchester einen kaum zu stemmenden Aufwand bedeuten, so sind diese Möglichkeiten der Korrektur und Verbesserung durch die Solisten mit dem zugespielten Band der Orchesterbegleitung theoretisch unproblematisch. Problematisch sind in der Praxis  allerdings die teilweise extremen Tempi Salemkours. Er hält sich streng an die Vorgaben des Komponisten, was dazu führt, dass die Sänger beim besten Willen den komplexen Text in der vorgegebenen Zeit kaum singen können. Positiv zu vermerken ist, dass der Dirigent aber sämtliche Striche in der Partitur geöffnet hat. Unter diesen Umständen entsteht die vielleicht werktreueste aller Elektra-Aufnahmen.

Benötigt wird aber dazu unbedingt ein Dirigent im Aufnahmestudio. Diese Aufgabe erfüllt der junge, aufstrebende Marcus Merkel, Begründer der „Jungen Berliner Philharmonie“ vortrefflich. Nach einer ersten Kapellmeistertätigkeit in Graz ist Marcus Merkel zur Zeit GMD in Koblenz.  Alle Sänger, und er selbst haben anfangs Schwierigkeiten mit den extrem schnellen Tempi Salemkours, die kaum Zeit für die Gestaltung des kostbaren Hofmannsthal-Textes lassen, aber im Laufe der Aufnahmesitzungen wird das Problem nach und nach gelöst.

Spiritus rector einer solchen anspruchsvollen Unternehmung muss aber ein Tonmeister sein, der gleichzeitig auch die Aufgabe eines Korrepetitors beherrscht. In Moritz Bergfeld hat man ihn gefunden, und seine Kenntnis der Partitur und sein Stilgefühl sind für die Solisten von unschätzbarem Wert. Mit einer durch Charme gemilderten Unerbittlichkeit feilt er auch an dem noch so kleinen Detail der Gesangslinien. Mit Humor motiviert er die Solisten, einzelne Passagen so lange zu wiederholen, bis ein Optimum an Textverständlichkeit erreicht ist. Hofmannsthals Text ist große Literatur, und das soll man auf dieser Aufnahme auch hören können.

Moritz Bergfeld und Barbara Krieger

Die Atmosphäre im Studio ist familiär und entspannt. Man kennt sich, und freut sich auf die gemeinsame Arbeit. Elektra in Gestalt von Barbara Krieger erscheint jeden Morgen mit einer Platte delikat belegter Brote, denn Singen macht hungrig. In den kurzen Pausen zwischen den Takes finden die Brote reißenden Absatz.

Naturgemäß sind nicht alle Sänger gleichzeitig im Studio. Ein ausgeklügelter Aufnahmeplan legt fest, wer wann anwesend sein muss. Der Orest der Aufnahme, Bariton Jochen Kupfer absolviert seinen einzigen Auftritt, die Erkennungsszene mit Elektra, schon frühzeitig, und wird nicht mehr erscheinen. Die gemeinsamen Szenen zwischen der Elektra Barbara Kriegers und der Chrysothemis Astrid Webers werden nicht chronologisch aufgenommen, sondern teilweise auf die zweite Aufnahmeperiode im Januar gelegt. Die erste Periode endet bereits vor dem ersten Adventsonntag, wesentliche Teile der Oper sind bereits „im Kasten“, wie Tonmeister Moritz Bergfeld die Beteiligten beruhigen kann.

Die zweite Aufnahmeperiode findet in der zweiten Januarwoche 2024 statt. Berlin erlebt frostige Wintertage, die zur Folge haben, dass teilweise umdisponiert werden muss. Barbara Krieger fühlt sich durch eine Nebenhöhlenentzündung beeinträchtigt, und schiebt die Aufnahmen ihrer Szenen auf die nächsten Tage. Nur kurz taucht der Ägisth Soritiris Charalampous im Studio auf, seine Rolle ist ja eher überschaubar. Auffallend sein jugendlich frischer Tenor, ganz offensichtlich hatte sich Klytämnestra einen jugendlichen Liebhaber ausgesucht. Das Ensemble der fünf Mägde und der Aufseherin rekrutierte sich aus Sängerinnen unterschiedlichster Herkunft, absolvierte die heikle Szene aber sehr souverän. Am zweiten Tag der Alptraum: die als Klytämnestra vorgesehene Sängerin ist erkrankt, und kann nicht anreisen. Man muss wieder an den Fluch der Atriden denken. Nun bewährt sich das Netzwerk aus Agenturen und persönlichen Kontakten. Es dauert nur Stunden, und ein Ersatz ist gefunden. Am dritten Tag mittags trifft Sanja Anastasia aus Belgrad ein, und das Timing des Projekts ist gerettet. An diesem Tag muss eine heikle Passage eingespielt werden: der kurze gemischte Chor kann nur in zwei Etappen aufgenommen werden, da das Studio nicht groß genug ist, um alle Chorsänger akustisch günstig zu platzieren.  Intonations-Probleme bei der Chorszene können etwas mühsam ausgeräumt werden. Als nächstes wird die Schluss-Szene mit Elektra und Chrysothemis eingespielt, die Chronologie der Aufnahme folgt nicht jener der Oper. Zum Abschluss des langen Tages werden noch Teile der Klytämnestra-Szene aufgenommen, die durchaus vielversprechend ausfallen.

Sanja Anastasia

Am vierten Tag steht der Dialog Klytämnestras mit Elektra an, diese wichtige Szene wird von Barbara Krieger und Sanja Anastasia intensiv gestaltet und findet auch vor den unbestechlichen Ohren Moritz Bergfelds nach wenigen Wiederholungen Gnade.

Für den fünften und letzten Tag bleibt nur noch eine besonders heikle Passage übrig. Plötzlich auftretendes Blitzeis auf Berlins Straßen scheint wieder von den Atriden geschickt, es gelingt aber allen Beteiligten, ohne Sturz das Tonstudio zu erreichen. Was noch aufgenommen werden muss, ist eine gewöhnlich gestrichene, lange Passage Elektras am Ende der Klytämnestra-Szene. Sie ist nicht nur musikalisch, sondern auch textlich besonders reizvoll. Hier sind die Tempi Salemkours aber so extrem schnell, dass es auf den ersten Blick unmöglich erscheint, den Text auch verständlich zu singen. Aber da kommt Barbara Kriegers wilde Entschlossenheit ins Spiel, die Partie bis ins Detail optimal zu gestalten. Es bedarf einiger Anläufe, aber am Ende gelingt es der Sängerin sogar, auf das Wort „jauchzt“ ein hohes C zu setzen, und das mit deutlich vernehmbarem z und t. Das stellt auch den akribischen Tonmeister zufrieden, leicht erschöpft, aber glücklich zerstreut sich das Team wieder in alle Winde. Nach aufwändiger Postproduktion dürfte das Endprodukt eindrucksvoll ausfallen und seinen Weg auf Tonträger finden. Für die Beteiligten bleibt aber auch die Erinnerung an eine intensive und beglückende Zusammenarbeit.

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