So vollständig hat selbst Berlioz seine „Trojaner“ nie gehört

So vollständig hat selbst Berlioz seine „Trojaner“ nie gehört

Einige Aufregung ging dieser hochkarätigen Aufführung von Berlioz‘ opus magnum voraus, die man hier nicht noch einmal thematisieren muss. Der Dirigent Dinis Sousa, der bei der Einstudierung eng mit John Eliot Gardiner zusammengearbeitet hatte, übernahm das Dirigat und brachte das Werk, wahrlich ein musikalisches Schlachtschiff, souverän und sicher in den Hafen. Zurecht wurde er dafür bejubelt, ob er aus Eigenem ähnliche Leistungen erbringen kann, wird die Zukunft zeigen. Am Rande sei noch erwähnt, dass jener Sänger, der den Eklat mit Gardiner auslöste, seinen Auftritt absagte.

Für Berlin ist es tatsächlich die erste Bekanntschaft mit der gesamten Partitur. Das Werk wurde erstmals 1930 an der Staatsoper mit Frida Leider und Helge Rosvaenge in stark gekürzter Form gegeben, 2010 wagte sich die Deutsche Oper in einer wenig überzeugenden Produktion an das erneut gekürzte Mammutwerk.

Wenn man das Werk erstmals in seiner Gesamtheit erlebt, wird erst der im Grunde lyrische Charakter der Oper deutlich. Gerade die zarten und lyrischen Passagen fielen zumeist den Kürzungen zum Opfer, die vollständige Fassung besitzt die nötige Ausgewogenheit. Nicht unproblematisch ist allerdings der Umfang des gesamten Werkes, die Aufführung dauert in dieser Form nahezu fünf Stunden, Pausen nicht gerechnet. In der letzten Stunde konnte man da und dort erschöpfte Zuhörer aus dem Saal schleichen sehen.

Dass der Spannungsbogen aber hält, die Aufführung keinen Leerlauf erfährt, ist vor allem der Leistung des Orchestre Révolutionaire et Romantique und dem Monteverdi Choir zu danken, die mit beachtlicher Vitalität und Sensibilität diese kostbare Partitur realisieren.
Das umfangreiche Solistenensemble kennt keine Schwachstellen, bis zur kleinsten Rolle wird auf höchstem Niveau gesungen. Alice Coote gibt den düsteren Prophezeiungen Cassandres mit ihrem reifen Mezzosopran Gewicht und Fülle. Als Didon überzeugt Paula Murrihy, deren schlanker, filigraner Mezzo den großen lyrischen Passagen, wie auch den dramatischen Ausbrüchen ihrer Rolle gerecht wird. Ihr samtig weiches Timbre macht sie zu einer Idealbesetzung dieser Rolle. Beth Taylor als ihre Schwester Anna ist vom Stimm-Typus her als guter Kontrast besetzt, ihr Mezzosopran ist fülliger und runder. Vorzüglich gelingen dem Tenor Laurence Kilsby die Arien des Iopas und Hylas, die wunderbare lyrische Miniaturen sind. Da empfiehlt sich jemand für größere Aufgaben.

Star des Abends ist der amerikanische Baritenor Michael Spyres als Enée, der gekonnt die unglaubliche Spannweite seiner heldischen Stimme auslotet und das Ensemble dominiert. Gerade hat der Tenor sein Rollendebüt als Siegmund bei den Bayreuther Festspielen 2024 bekannt gegeben ,man darf sich darauf freuen.

Hector Berlioz war es nicht vergönnt, sein Werk jemals komplett auf einer Bühne zu erleben. Das Publikum in der Berliner Philharmonie nahm die Gelegenheit dazu dankbar an, auffällig und bedauerlich aber die große Anzahl freier Plätze bei diesem Spitzenkonzert. An Gardiners kurzfristiger Absage kann es nicht gelegen haben, im notorisch klammen Berlin waren es wohl eher die Eintrittspreise von bis zu 160€, die für nicht wenige Musikliebhaber nicht erschwinglich waren.

Am Schluss nicht enden wollender Applaus, der eine Leistung der absoluten Spitzenklasse belohnte.

Hoppenrade 1970er-Jahre (Foto: Estate of Sibylle Bergemann / OSTKREUZ / Courtesy Loock Galerie)

Hector Berlioz
Les Troyens (halbszenische Aufführung)

Alice Coote  Cassandre
Michael Spyres  Enée
Paula Murrihy  Didon
Beth Taylor  Anna
Laurence Kilsby Iopas/Hylas

Orchestre Révolutionaire et Romantique
Monteverdi Choir
Dinis Sousa  Dirigent

Philharmonie Berlin, 1. September 2023

zuerst erschienen bei http://www.klassik-begeistert.de

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