Hermann Scherchens Beethoven – zeitlos modern

Hermann Scherchens Beethoven – zeitlos modern

Neben einer kaum überschaubaren Zahl von Neuaufnahmen Beethoven’scher Werke werden im Jahr seines 250. Geburtstages aber erfreulicherweise auch bedeutende ältere Einspielungen neu aufgelegt.

Eine editorische Meisterleistung stellt eindeutig die acht CDs umfassende Box mit fast allen erhaltenen Beethoven-Einspielungen Hermann Scherchens dar. Hier hat die Deutsche Grammophon nicht gespart, und die seinerzeit kontrovers aufgenommenen Westminster-Schallplatten sorgfältig digitalisiert. Neben den neun Symphonien, in den 1950er Jahren in Mono aufgenommen, und fast allen Ouvertüren Beethovens, inklusive „Wellingtons Sieg“ und der Großen Fuge in der Fassung für Streichorchester finden sich in der Box als Bonus auch Aufnahmen der 3. Und 6. Symphonie in Stereo.

Der 1891 in Berlin geborene Scherchen wurde gerne als „Enfant terrible“ der Klassik-Szene gehandelt, sicher war er kein einfacher Mensch. Ein längerer Probenmitschnitt von „Wellingtons Sieg“ zeigt ihn als einerseits humorvollen, andererseits aber auch kompromisslosen Musiker, der sehr dezidierte Vorstellungen von der Interpretation eines Werkes hat. Politisch stand Scherchen deutlich links, nach der Machtergreifung der Nazis verließ er Deutschland und lebte in der Schweiz. Noch in Deutschland hatte er die Zeitschrift Melos gegründet, später begründete er auch einen Musikverlag und war zeitlebens ein engagierter Vorkämpfer neuer Musik.

Seine Beethoven-Interpretationen  kann man stilistisch zwischen Toscanini und dem Karajan-Zyklus vom Anfang der 1960er Jahre einreihen. Deutlich hebt er sich schon in den Tempi von der spätromantisch beeinflussten Lesart Wilhelm Furtwänglers ab. Seine Vorgehensweise erscheint dabei äußerst pragmatisch, so differieren beispielsweise die Zeitmaße der Mono- und Stereoaufnahmen der 3. Und 6. Symphonie erheblich. Entfesselt er bei den drei Leonoren-Ouvertüren einschließlich der des Fidelio geradezu einen Klangrausch, verlangsamt er in der „Ode an die Freude“ das Tempo in ungewöhnlicher Weise.

Ausgerechnet der krönende Abschluss des Zyklus mit der „neunten Symphonie fällt vokal etwas enttäuschend aus. Scherchens auffällig langsame Tempi machen es dem Chor und den Solisten nicht gerade leicht. Der Bass Richard Standen intoniert ein wenig dumpf und unfroh, Magda Laszlos Sopran fehlt die Süße des Timbres und vor allem der Jubelton, der über dem Chor schweben sollte, ihr Sopran bleibt zu unauffällig. Besser schlagen sich die erfahrene Konzertsängerin Hilde Rössl-Majdan und der Tenor Petre Munteanu, der seinen Part  nicht heldisch, sondern

ausgesprochen lyrisch interpretiert. Der Akademische Chor Wien klingt solide, aber auch nicht mehr. Einmal mehr wird deutlich, warum bei fast allen Einspielungen der Neunten größter Wert auf prominente Vokalsolisten gelegt wird. Beethoven hatte ein gestörtes Verhältnis zu Singstimmen, die instrumental geführten Solostimmen geraten schnell an die Grenzen des der menschlichen Stimme Möglichen.

Die schon in den Zeiten der Vinyl-Schallplatten gerühmte Aufnahmetechnik des Labels Westminster bestätigt sich beim Remastering erneut. Streckenweise will man gar nicht glauben, es mit Mono-Aufnahmen der 1950er Jahre zu tun zu haben. Dankenswerter Weise hat die Deutsche Grammophon praktisch die gesamte Backlist dieses Labels übernommen und auf CD zugänglich gemacht. Vielfach wurde seinerzeit  das so genannte Orchester der Wiener Staatsoper eingesetzt, das quasi eine B-Formation der Wiener Philharmoniker darstellt. Auch in diesen Einspielungen unter Scherchen stellen sie das Orchester.

Die Aufnahmen atmen sämtlich einen modernen Geist, auch nach über sechzig Jahren wirken sie erfrischend unkonventionell und laden zum Vergleich mit zeitgenössischen Dirigaten ein. Eine sehr verdienstvolle Wiederveröffentlichung, die Scherchens Nachruhm sicher positiv beeinflussen wird.

8 CD Deutsche Grammophon 483 81 63

zuerst erschienen bei http://klassik-begeistert.de

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