Olga Neuwirths „Orlando“ an der Wiener Staatsoper: Materialschlacht mit Schwächen

Olga Neuwirths „Orlando“ an der Wiener Staatsoper: Materialschlacht mit Schwächen

Die ehrwürdige Wiener Staatsoper hat sich während der Direktion Dominique Meyers nicht unbedingt den Ruf einer besonders kreativen Bühne erworben. Aber  wenige Monate vor dem Ende seiner Amtszeit, brachte Meyer die von ihm an Olga Neuwirth in Auftrag gegebene Oper Orlando zur Uraufführung. Das erforderte einen Kraftakt, der wohl sämtliche technischen und künstlerischen Ressourcen des Hauses an seine Grenzen stoßen ließ.

Aber der Reihe nach: Olga Neuwirth hat sich als literarische Vorlage Virginia Woolfs Kultroman Orlando gewählt, geradezu eine Ikone der Transgenderthematik, verwandelt sich doch der englische Edelmann Orlando im Laufe der Handlung in eine Frau. Neuwirth, die sich zusammen mit Catherine Filloux auch für das Libretto in englischer Sprache verantwortlich zeichnet, spinnt die Handlung aber noch weiter bis in die Gegenwart.

Der Apparat, der für diese auch optische Reise durch mehrere Jahrhunderte aufgeboten wird, ist gewaltig. Videoinstallationen, die in diesem Kontext endlich einmal sinnvoll eingesetzt sind, sowie flexible Versatzstücke ermöglichen schnelle Wechsel der Szenerie. Ein Ensemble von über dreißig Solisten, Chor, Kinderchor, Statisterie und Bühnenmusik wollen gut koordiniert sein. Das gelingt der Regisseurin Polly Graham durchaus, für eine erkennbare eigene dramaturgische Handschrift bleibt aber bei dieser von den Videos Will Dukes, den gelungenen Bühnenbildern von Roy Spahn, vor allem aber den prächtigen, höchst artifiziellen Kostümen des Labels „Comme des Garçons“ dominierten Szene wenig Raum.

Die Musik, die Olga Neuwirth für dieses Mega-Spektakel komponiert hat, spannt stilistisch einen weiten Bogen. Ihr Spiel mit Klangfarben, verfremdeten Zitaten bis hin zu „O Tannenbaum“, dem Einsatz einer Jazzband und Synthesizern ist äußerst komplex und in seiner Gesamtheit nach einmaligem Hören kaum zu erfassen.

Dabei ist die Musik durchaus sängerfreundlich, was vor allem der Sängerin des Orlando, der amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey, ausgiebig Gelegenheit gibt, ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die Sprechrolle der Erzählerin, die den roten Faden der Handlung weiterspinnt, wird von Anna Clementi mit schöner, klarer Sprechstimme dem Ohr wohltuend verkörpert. Nur in den ersten Szenen dominiert das gesprochene Wort zu stark, was der Konzentration auf die Musik abträglich ist.

Die Oper folgt Woolfs literarischer Vorlage, die mit dem Jahr 1928 endet. Von da bis zur Gegenwart bilden hauptsächlich weltgeschichtliche Ereignisse den roten Faden der Handlung, die dadurch leider an Geschlossenheit verliert. Ein tief berührender Moment wird mit dem Jahr 1941 verbunden: zu den leicht verfremdeten Klängen des Bach’schen Doppelkonzerts für zwei Violinen werden unablässig Namen auf den Bühnenhintergrund projiziert. Bald begreift man, dass es sich um Opfer des Holocaust handelt.

Je mehr sich der Ablauf der Gegenwart nähert, läuft die Aufführung Gefahr, aus dem Ruder zu laufen. Hier will Neuwirth einfach zu viel auf die Bühne bringen, von der Transgenderthematik bis zur Umweltverschmutzung bleibt kaum ein Thema unerwähnt; die letzte halbe Stunde der Aufführung verliert sich zunehmend im „Gutmenschentum“ und stellt das Publikum auf eine harte Probe. Neuwirth wäre gut beraten, für zukünftige Aufführungen das Werk im zweiten Teil zu straffen und zu kürzen.

Der Dirigent Matthias Pintscher führt das große Ensemble und den ungewöhnlichen Klangapparat mit bewunderungswürdiger Sicherheit durch den langen Abend, scheint in keinem Augenblick den Überblick über die komplexe Partitur zu verlieren.

Wenn man die Uraufführung im Dezember 2019 live erlebt hat, bietet die nun erschienene DVD/Blu-Ray die willkommene Gelegenheit, das Werk näher kennen zu lernen. Es verstärkt sich der Eindruck, dass Olga Neuwirth die Oper ein wenig straffen, und im letzten Drittel kürzen sollte.

Dieses beeindruckende Werk, das man eher als Performance bezeichnen könnte, sprengt den Rahmen einer konventionellen Oper allemal. Aber wer hätte von Olga Neuwirth anderes erwartet?

Olga Neuwirth  Orlando

Catherine Filloux und Olga Neuwirth: Libretto

Unitel 760804

Mitschnitt der Uraufführung an der Wiener Staatsoper am 8. Dezember 2019

zuerst erschienen bei http://www.klassik-begeistert.de

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