Alfred Schnittkes höchst origineller Symphonie Nr.1 begegnet man im Konzertsaal eher selten, was keineswegs durch ihre Qualität, viel mehr durch den gewaltigen erforderlichen Apparat bedingt ist. Sehr ungewöhnlich sind auch die vom Komponisten festgelegten Rituale, nach denen eine Aufführung ablaufen soll.
Die Orchestermitglieder betreten nach und nach das Podium, bereits auf ihren Instrumenten spielend. Erst nach einer Weile huscht der Dirigent unauffällig ans Pult, um kurz abzuklopfen, anschließend seinen ersten Einsatz zu geben. Das geradezu penetrant applaus-süchtige Berliner Publikum versteht diesen Scherz nicht und klatscht voll in die Musik.
Auch im weiteren Verlauf des ausladenden, eine gute Stunde dauernden Werkes gibt es ungewöhnliche Situationen. So applaudiert das gesamte Orchester dem Trompeter nach einer langen, schwierigen Solopassage. Im Laufe der Aufführung verlassen einige Instrumentengruppen auch wieder den Saal, um rechtzeitig zu ihrem neuen Einsatz wieder zurückzukehren.
Das Werk an sich kann man als eine großartige, Happening-artige Collage betrachten, die im schnellen Wechsel unzählige Zitate bis hin zum Finale einer Beethoven-Symphonie spielerisch verbindet. Der Zuhörer ist immer wieder gefordert, sein musikalisches Gedächtnis zu befragen. Die Verbindung verschiedenster Stile und Musikrichtungen gelingt Schnittke aber erstaunlich gut. Den ausführenden Musikern verlangt das Stück allerdings alle verfügbaren Kräfte ab.
Daraus ergibt sich auch die Problematik dieses Konzerts, in dem nach der Pause noch Bruckners sechste Symphonie aufgeführt wird. Es ist im Konzertbetrieb allgemein unüblich, zwei so große, massive Werke zu paaren, und das aus gutem Grund. Die mentale und physische Anstrengung die sich daraus ergibt, führt sowohl bei den Musikern als auch dem Publikum zu einer gewissen Überforderung. Nur so ist es zu erklären, dass sich das rechte Bruckner-Glück nicht einstellen will.
Der Kopfsatz wird ein wenig verwackelt dargeboten, das große Hauptthema kann sich nicht ganz mit der erforderlichen Wucht und Dominanz entfalten. In den folgenden Sätzen fasst das Orchester wieder Tritt, aber insgesamt fehlt es der Aufführung an Transparenz und klarer Linie. Es fordert offenbar seinen Tribut, wenn Orchester, vor allem aber Stardirigenten durch Europa und die Welt hetzen und sich permanent an der Grenze ihrer physischen Leistungsfähigkeit bewegen, von der mentalen erst gar nicht zu sprechen.
Valery Gergiev, immerhin ein Mann in seinen Sechzigern, tourt in diesen Monaten gleich mit mehreren Orchestern durch Europa, mit einem Tourneeplan, der ihm kaum Atempausen lässt.
Fazit: in diesem Fall wäre weniger sicher mehr gewesen. Zu viel des Guten ist kontraproduktiv.
Philharmonie Berlin, 10. September 2019
Münchner Philharmoniker
Valery Gergiev Leitung
Alfred Schnittke Symphonie Nr.1
Anton Bruckner Symphonie Nr.6 A-Dur
zuerst erschienen bei www.klassik-begeistert.de