Patrice Chereaus Elektra-Produktion in Aix en Provence vom Sommer 2013 war die letzte Regiearbeit des charismatischen Regisseurs, im Oktober letzten Jahres ist er seinem Krebsleiden erlegen. Solches Wissen verführt immer dazu, letzte Arbeiten als Vermächtnis oder Quintessenz eines gesamten Schaffens zu sehen.
Ob das in diesem Fall berechtigt ist oder nicht, Chereau ist hier noch einmal ein großer Wurf gelungen, er besticht vor allem durch atmosphärische Dichte und punktgenaue Personenführung. Vieles an seiner Sicht der Geschichte ist neu, nicht nur in Äußerlichkeiten. Die Mägde und das Gesinde des Königshauses tauchen im Laufe der Handlung immer wieder auf, bevölkern die Bühne, agieren praktisch als der Chor der antiken Tragödie. Das macht Sinn, und erklärt den Chorgesang der finalen Szene, der sonst immer etwas unmotiviert aus einem imaginären Raum ertönt. Chereau ist streng mit seinen Sängern, er unterbindet speziell im Falle der Klytämnestra jegliche Überzeichnung der Figur. Diese Königin gibt in keinem Moment ihre Würde preis, ist völlig beherrscht und trägt trotzdem ihre Todesangst und die Ahnung ihres Schicksals deutlich ins Gesicht geschrieben. Konsequent entfällt das hysterische Lachen am Ende ihrer Szene, hier geht eine Verurteilte stumm ihrem Ende entgegen. In der vorausgehenden Szene wirft Elektra mit einem Schuh nach ihrer Mutter, Symbol nicht nur für Erniedrigung, hier ist es für Klytämnestra ein Vorgriff auf ihre Ermordung.
Chereau zeigt sämtliche Protagonisten als Verdammte, die ihrem Schicksal nicht entrinnen können. Elektra, unfähig den ersehnten Rache-Mord an Mutter und Stiefvater auszuführen, verbrennt nach Innen. Chrysothemis, von dem Wunsch nach einem „Weiberschicksal“ umgetrieben ist so sehr traumatisiert, dass die von ihr beschworene Idylle ein Wunschtraum bleiben wird. Orest schließlich, der ersehnte Rächer und Erlöser weiß bereits um seinen Fluch, und flüchtet nach vollbrachtem Muttermord von der Szene. Zurück bleiben unerlöst die Schwestern, auch Elektra am Leben, aber aschfahl und leer gebrannt wie ein erloschener Vulkan.
Esa-Pekka Salonen mit dem Orchestre de Paris, bisher nicht unbedingt als Strauss-Orchester hervorgetreten, bietet eine solide Leistung, begleitet sängerfreundlich, setzt aber kaum eigene Akzente.
Ein Glücksfall ist die Besetzung der Elektra mit Evelyn Herlitzius, die ihrem nicht sehr großen Sopran über die Jahre ein erstaunliches Volumen abgetrotzt hat. Ist ihr Gesang auch hier Geschmackssache, überwältigt sie doch mit einer darstellerischen Intensität, die bis zur Selbstverleugnung geht. Diese Elektra ist ein Feuerball, der permanent implodiert und an sich selbst zu Grunde geht. Adrianne Pieczonka gibt die Chrysothemis eher verhalten, stellenweise würde man sich ein stärkeres Aufblühen ihres Soprans wünschen, aber in dieser Form passt sie ausgezeichnet in Chereaus Regiekonzept. Waltraud Meier als Klytämnestra ist in jedem Augenblick königlich, scheinbar beherrscht, und trotzdem eine gebrochene Frau. Stimmlich bleibt sie ein wenig unter ihren Möglichkeiten, die vielen Sopranpartien haben eben doch ihren Tribut gefordert. Mikhail Petrenko als Orest und Tom Randle als Aegisth bleiben eher unbedeutend. Fast gerührt begegnet man einigen Sängern der älteren Generation, so Roberta Alexander als expressiver fünfter Magd, Franz Mazura als Pfleger des Orest, und Donald McIntyre als altem Diener. Insgesamt eine stringente, anrührende Interpretation des Strauss’schen Meisterwerkes. Die Bildregie von Stephane Metge ist der Arbeit Chereaus durchaus ebenbürtig.
Ein berührendes, langes Interview mit Chereau, nur Wochen vor seinem Tod, ist eine sinnvolle Ergänzung, die Ausstattung der DVD mit einem üppigen Booklet weit über dem gewohnten (ärgerlichen) Standard.
Ein wenig erstaunt entnimmt man dem Abspann, dass diese Produktion noch an mehreren großen Häusern gezeigt werden wird, dann wohl schon mit dem Abstand von Jahren zu Chereaus Tod. Wie weit diese Aufführungen dann noch Authentizität beanspruchen können, bleibt abzuwarten.
BelAir classiques BAC 110