Die der griechischen Mythologie entstammende Figur der Iphigenie, Tochter des Agamemnon und der Klytämnestra, hat über Jahrhunderte Dichter und Komponisten beschäftigt und ihren Niederschlag in Dramen und Opern gefunden. Goethe und Gluck haben mit ihren Werken den nachhaltigsten Erfolg erzielt.
Allerdings gab es auch schon lange vor Gluck Iphigenie-Opern. Das auf Werke des Barock spezialisierte Label Alpha hat nun eine solche veröffentlicht, deren Entstehungsgeschichte durchaus ungewöhnlich ist.
Begonnen wurde die Komposition dieser Oper von Henri Desmarest, einem zu dieser Zeit bekannten Komponisten, um 1695. Die Fertigstellung des Werkes verzögerte sich, und als Desmarest 1699 aus rechtlichen Gründen ins Exil gehen musste, war die Oper noch nicht fertiggestellt. Vor seiner Abreise übergab er die unvollendete Partitur einem Vertrauten, der sie wiederum an den Komponisten André Campra weitergab, der sich zu einer Vollendung der Oper entschloss, wobei er auch die ersten bereits vorliegenden Akte überarbeitete.
Im Jahr 1704 fand schließlich die Uraufführung statt, aber erst eine Wiederaufnahme brachte dem Werk 1711 den endgültigen Durchbruch. Campra hatte sich geschickt dem Stil von Desmarest angepasst, so dass es schwer zu unterscheiden ist, von wem welcher Teil stammt. Auch während des 18. Jahrhunderts blieb die Oper noch längere Zeit sowohl in Frankreich, als auch in anderen Teilen Europas im Repertoire.
Die Aufnahmen für diese Produktion fanden im Januar 2024 im Auditotium Jean-Baptiste Lully in Puteaux, Frankreich statt. Ein hoch kompetentes Ensemble, begleitet von der Orchesterformation Le Concert Spirituel unter seinem Begründer Hervé Niquet realisierte eine in sich stimmige Interpretation auf höchstem Niveau.
Die unverwüstliche Véronique Gens gibt der Titelrolle starken Ausdruck und Statur. Reinoud van Mechelen als Pylade verfügt über einen gut fokussierten Tenor, der mit dem Bariton Tomas Doliés, der den Oreste singt, bestens harmoniert.
Auch die kleinen Partien sind kongenial besetzt und bilden zusammen mit dem Chor ein stilechtes Ensemble. Man muss es begrüßen, dass diese fast vergessene Oper aus den Archiven durch diese Einspielung wieder zugänglich gemacht wird.
Iphigénie en Tauride
Henry Desmarest
André Campra
Véronique Gens
Reinoud van Mechelen
Thomas Dolié
Le Concert Spirituel
Hervé Niquet
Alpha 1106
zuerst erschienen bei http://www.klassik-begeistert.de