Die österreichische Komponistin Olga Neuwirth, 1968 geboren, zählt man heute zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Das Werk mit sperrigem Titel ist eine Auftragsarbeit für die Berliner Philharmoniker, der New York Philharmonic und dem Königlich Philharmonischen Orchester Stockholm. In diesem Konzert erlebte es nach einer pandemie-bedingten Verschiebung seine Uraufführung.
Neuwirth macht es dem Hörer nicht leicht, einen direkten Zugang zu dem Werk zu finden. Der Hyppogryph ist ein Fabelwesen, halb Greif, halb Pferd. Weder der Titel des Stückes, noch die Gesangstexte helfen bei einer Einordnung weiter. Wenn Olga Neuwirth über das Werk sagt: “Die Form dieser Komposition ist wie eine Wanderung durch viele verschiedene emotionale Zustände“, so hat man zumindest eine Deutungsmöglichkeit. Der Text ist eine Kollage aus sehr unterschiedlichen Zitaten, da finden sich Schnipsel von Melville, Whitman, Nietzsche, Gertrude Stein und Olga Neuwirth. Selbst diverse Street Graffiti wurden in den komplett englisch gesungenen Text aufgenommen.
Neuwirths Intention ist es, durch verschiedenartige textliche und musikalische Inhalte einer Vielfalt von Erfahrungen Ausdruck zu verleihen. Sie wählt für dieses, knapp halbstündige Vokalwerk, eine aufwändige und interessante Besetzung. Neben groß besetztem Orchester singen ein Countertenor und ein Knabenchor im Wechsel. Als Solist erfüllt Andrew Watts die etwas kryptische Textvorlage mit starkem Ausdruck und Gestaltungswillen, ebenso wie auch der von Michael Hofstetter einstudierte Tölzer Knabenchor. Streicher und Schlagwerk dominieren die polyphone Struktur des Werkes, dessen Beurteilung nach dem ersten Hören nicht leicht fällt. Beeindruckt war das Publikum aber deutlich, die anwesende Komponistin konnte sich über lang anhaltenden Applaus freuen.
Als starker Kontrast zu dieser Uraufführung geriet der zweite Teil
des Konzerts, bei dem Anton Bruckners vierte Symphonie erklang. Die
sogenannte „Romantische“ ist wohl das populärste Werk des
österreichischen Komponisten, leichte Kost ist aber auch diese gut
einstündige Symphonie nicht. Für die Berliner Philharmoniker gehören
Anton Bruckners Symphonien aber praktisch zu ihrer musikalischen DNA,
und der trotz seiner Jugend bereits erfahrene tschechische Dirigent
Jakub Hrusa ist mit diesem Werk gut vertraut.
Anders als gewöhnlich hat der Komponist für dieses Werk Auskunft über den programmatischen Aufbau gegeben. Assoziationen über eine mittelalterliche Stadt, in der die morgendlichen Weckrufe ertönen, später Waldesrauschen, Vogelgesang, dem Scherzo hat er Eindrücke einer Jagd zugeordnet, über den Finalsatz soll Bruckner vom „Schrecken des Waldes“ gesprochen haben. Genug Stoff also für einen eindrucksvollen Einsatz des großen Orchesterapparates, den Hrusa mit äußerster Konzentration durch das ausladende Werk führt. Der Dirigent arbeitet die Kontraste zwischen den eher lyrischen Passagen und den triumphalen Passagen der Bläser deutlich heraus. An manchen Stellen verharrt er vielleicht zu lange und zögerlich, um so eindrucksvoller gelingen dadurch aber anschließend die Steigerungen ins Monumentale, bei denen das Orchester seine Weltklasse erneut beweisen kann. Hrusa, seit 2015 Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, empfiehlt sich inzwischen auch für höchste Ämter. Ob man ihn in Dresden wohl auf dem Schirm hat, wenn es um die Nachfolge Christian Thielemanns geht?
Philharmonie Berlin, 11. September 2021
Foto: Olga Neuwirth©Markus Wächter / Waechter
Olga Neuwirth
Keyframes for a Hippogriff (Uraufführung)
Anton Bruckner
Symphonie Nr.4 Es-Dur
Berliner Philharmoniker
Jakub Hrusa Dirigent
Andrew Watts Countertenor
Tölzer Knabenchor
zuerst erschienen bei http://www.klassik-begeistert.de