Mit erheblichem Aufwand wurde im Apollosaal der Berliner Staatsoper Unter den Linden dieses im renommierten Skira-Verlag erschienene Buch der Öffentlichkeit vorgestellt. Das ist wohl der Tatsache geschuldet, dass Matthias Schulz, gegenwärtig noch Intendant des Hauses mit einem Beitrag in dem Werk vertreten ist, das parallel in deutscher und englischer Sprache erscheint. Geplant bereits vor der Covid-Pandemie wurde der Rücklauf der Beiträge und die Fertigstellung des Buches um ein bis zwei Jahre verzögert. Dadurch sind auch Persönlichkeiten wie Christa Ludwig und Mariss Jansons vertreten, die in der Zwischenzeit verstorben sind.
Die drei Herausgeber des Bandes bemühten sich redlich, so etwas wie eine rote Linie der Publikation aufzuzeigen, am Ende der Veranstaltung hatte man aber das Gefühl, dass nur viel geredet, aber wenig gesagt wurde.
Auf annähernd 500 eng in sehr kleiner Schrift bedruckten Seiten kann man die Reflektionen über die Oper von einer Vielzahl von Künstlern oder im Kulturbereich tätigen Persönlichkeiten nachlesen. Dass deren Sichtweisen und Denkansätze sehr verschieden sind, liegt in der Natur der Sache, macht die Lektüre allerdings nicht leichter.
Deutlich den Finger in die Wunde legt der Publizist und erfolgreiche Agent Michael Lewin, der ohne Umschweife die mangelnde Eignung und Kompetenz speziell im Bereich der Opernregie aufs Korn nimmt, und dabei ins Schwarze trifft. Sehr viel verquaster und weniger klar in der Aussage fällt ein abgedrucktes Interview mit dem Wiener Staatsoperndirektor Bogdan Roščić aus, der sich als Amtsträger einer als Schleudersitz bekannten Position nicht zu weit aus dem Fenster lehnen will.
Der durchaus provokant gemeinte Titel dieser Publikation kommt ohne Fragezeichen aus, was den Effekt hat, dass die Beiträge der nahezu 100 Befragten auch sehr uneinheitlich ausfallen. Tatsächlich finden sich in dem Buch die Beiträge bedeutender Sänger, Dirigenten, Regisseure und zeitgenössischer Komponisten, auch Personen des Kulturmanagements und Intendanten kommen zu Wort, selbst Musikkritiker.
Interessant ist der Beitrag Eleonore Bünings, gleichsam der Doyenne der deutschen Opernkritik. Sie beklagt nicht zu Unrecht die mangelnde Urteilsfähigkeit ihrer jüngeren Kollegen. Fundierte Kenntnisse über Gesang werden ersetzt durch Abarbeitung der inszenatorischen Aspekte einer Aufführung, was die Dominanz der Regie über die Musik noch weiter befördert.
Bedauerlich, dass keine Beiträge von Barrie Kosky und Christof Loy enthalten sind. Diese zwei Regisseure zählen aktuell zu den besten ihrer Zunft, und hätten sicher Interessantes beizusteuern gehabt.
Die im Titel beschworenen letzten Tage der Oper scheinen mir persönlich tatsächlich angebrochen zu sein. Die Zunft der Regisseure, die sich heute bevorzugt als Quereinsteiger dieser Kunstform nähern, unterliegen schon deshalb häufig eklatanten Fehleinschätzungen. Oper mit Schauspiel oder Film gleichzusetzen, ist ein verhängnisvoller Irrtum. Nur relativ wenige Sänger verfügen über eine nennenswerte schauspielerische Begabung, ausgeklügelte Inszenierungen überfordern daher regelmäßig die Protagonisten.
Hatte es noch weit über die Mitte des letzten Jahrhunderts den explizit so genannten Beruf des Opernregisseurs gegeben, dessen Arbeit darin bestand, gefällige Tableaus zu schaffen, in denen sich auch Einspringer und Gäste mühelos zurechtfinden konnten, so tummeln sich heute an den Regiepulten oft Künstler, denen das Metier Oper fremd ist. Die Inszenierungen auch häufig gespielter Werke sind so speziell, dass oft genug jener Sänger, der mit geprobt hat, im Fall von Indisposition stumm auf der Bühne agiert, während ein Ersatzmann aus der Gasse oder dem Orchestergraben singt. Durch in Opernhäusern notwendige und übliche Besetzungsänderungen ist das ursprüngliche Regiekonzept ohnehin schnell Makulatur.
Grundübel scheint mir aber das zum Gesetz gewordene Missverständnis zu sein, Opernstoffe müssten aktualisiert werden. Was dem Sprechtheater bereits zur Flucht des Publikums aus den Häusern verholfen hat, wird nun auch dem Musiktheater aufgepfropft. Käme ernsthaft jemand auf die Idee, ein Gemälde der Renaissance oder des Barock mit moderner Kleidung der Dargestellten zu übermalen? Die so genannten „Überschreibungen“ klassischer Dramen machen genau dies, nun soll wohl auch die Oper diesem unsäglichen Zeitgeist geopfert werden. Die halbleeren Sprechtheater erlauben bereits einen visionären Blick in die Zukunft der Opernhäuser.
Eine geradezu verheerende Auswirkung hat auch die Ächtung des Blackfacing und anderer Auswüchse der so genannten cancel-culture. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich in einer „Zauberflöte“ einen weißen Monostatos erlebe, der einen grotesk veränderten Text singt, um nur das Wort „Schwarzer“ nicht in den Mund nehmen zu müssen. Als ob Rassismus verschwände, wenn man ihn nicht mehr verbalisiert. Wer von kultureller Aneignung faselt, müsste in der letzten Konsequenz Opern wie „Aida“ oder „Madama Butterfly“ nur noch mit people of colour besetzen. Viel Vergnügen bei der Suche! Im Umkehrschluss dürften dann aber auch diese Sänger keine „weißen“ Partien singen. Die wunderbare Sopranistin Leontyne Price, eine Afroamerikanerin, wäre unter diesen Aspekten fast aller ihrer Glanzrollen wie „Tosca“ und Leonora im „Trovatore“ verlustig gegangen. Aber so weit zu denken übersteigt wahrscheinlich den Horizont der Verfechter solcher Regelungen.
Freilich, die Problematik der Kunstform Oper liegt auch darin begründet, dass die Mehrzahl der regelmäßig aufgeführten Werke bereits vor dem 20. Jahrhundert entstanden ist. Der Kanon der Spielpläne fokussiert gegenwärtig bestenfalls auf eine zweistellige Zahl, was doch sehr an der Kreativität der zuständigen Dramaturgen und Leitern von Opernhäusern zweifeln lässt. Die erfreulich stark wachsende Barockszene macht vor, was oft zu Unrecht in den Archiven schlummert. Den heute wieder verstärkt gespielten Leonardo Vinci kannte man bestenfalls wegen seiner Namensgleichheit mit dem Maler. Es ist nicht so, dass vergessene Opern keine Ausgrabung verdienen, häufig haben unglückliche Umstände bei der Uraufführung den Durchfall des Werkes begründet. Selbst Bizets „Carmen“ war bei ihrer Premiere ein Flop. Tausende vergessene Werke sind sogar im Druck erhältlich, sie in ihrer Gesamtheit zu ignorieren, ist ein unverzeihliches Versäumnis.
Auf neue, starke Werke des Genres wartet man weitgehend vergeblich. Es fehlt nicht an Versuchen, bühnentaugliche Opern zu schaffen, fast immer enden diese Versuche aber unbefriedigend. Seit dem zweiten Weltkrieg hat es nur eine Handvoll von Opern dauerhaft auf die internationalen Spielpläne geschafft, eine traurige Bilanz für die letzten siebzig Jahre. Dementsprechend arbeiten sich die Regisseure an dem engen Repertoire ab, in einer Weise, die diese Werke zerstört.
Soll die Gattung Oper, die ich hier bewusst nicht Musiktheater nennen will, eine erfolgreiche Zukunft haben, müsste man zu einer neuen Ästhetik für diese Kunstform finden, die den goldenen Mittelweg zwischen abstrusen Umdeutungen und plüschiger Nostalgie beschreitet. Diese in Verbindung mit einem stark erweiterten Repertoire aus allen musikalischen Epochen könnte zu neuen, erfrischenden Ansätzen führen.
Die letzten Tage der Oper
Denise Wendel-Poray Gert Korentschnig Christian Kirchner (Herausgeber)
Verlag Skira
zuerst erschienen bei http://www.klassik-begeistert.de